Es waren lange 5 Wochen und 6 Tage ohne Renneinsatz - kurzweilig für mich allemal. Ein langer Text wird es nun leider auch ;)
Als klar war, dass ich nun definitiv 4-6 Wochen einen Ausfall der Hand hatte wegen des Gips, fasste ich ein Ziel. Obwohl die DM und die EM im Graveln und das abschliessende Zeitfahren des Schweizer Frauencups (welches ich mit einer sehr guten Platzierung abschliessen müssen, um von Rang 4 auf das Podium hätte zu gelangen) meinerseits abgesagt waren, wollte ich an der WM in Italien einen guten Abschluss der Saison einfahren. Ich wusste, dass das Ziel vielleicht sehr hoch war, vor allem, weil die erste(n) 1-2 Wochen doch noch stark von Schmerzen, Kompromissen und Immobilisation geprägt waren. Karsten und ich verbrachten dann 4 Tage in Livigno anstatt der DM und ab da an ging es definitiv aufwärts. Ich konnte nachts wieder schlafen und bewegte mich zunehmends "normaler". Mit der Treppensteigmaschine im Fitness, mit Wanderungen und in Woche 3 dann auch langsam auf die Rolle versuchte ich meine Form zu konservieren und die Zeit mal wieder für andere Muskelpartien zu nutzen. Unter anderem betreute ich mein Team Baden Forchheim am RIderman und Karsten und ich nutzen die Zeit auch für andere Aktivitäten im Spätsommer. Denn "normalerweise" sind wir an dieser Schönwetterperiode immer mit der Restsaison beschäftigt. Torsten Walter, ein Physio, der viel mit Handverletzungen im Sport zu tun hat, half mir Positionen auf dem Rad zu eruieren und versch. Tapearten auszuprobieren. Eine Schiene fürs Rennen schlossen wir aufgrund der Unpraktikabilität aus. Es war von vorneherein klar, dass ein Sturz auf die Hand so oder so negative Konsequenzen mit sich tragen würde. Mit und ohne Schiene. Nach 4 Wochen war ich sehr guter Dinge nun den Gips wegzubekommen und endlich wieder meine Handkraft aufbauen zu können und ggf. wieder richtig aufs Rad zu sitzen. Leider zeigte das Röntgenbild, unpassend zur Klinik, eher zu wenig Kallus (Knochenmaterial). In dem Moment, als mir meine Kollegin und Ärztin Marie Jirat, sagte, das sei zu wenig und wir sollten besser nochmals 2 Wochen den Gips anbringen, war ich das erste mal wohl so richtig enttäuscht und wütend auf den Sturz und mich selbst.
Sie merkte dies wohl, "quetschte" mein persönliches RehaZiel (WM 2023) aus mir heraus und wir zogen einen weiteren Arzt hinzu, Reto Egger, und passten dann das Prozedere doch abgeändert an. Es gab eine Handgelenksmanschette und wir machten einen maximalspäten Arzttermin (dass ich noch auf die WM-Strecke gehen konnte am Tag vor dem Rennen) ab und einigten uns zu dritt darauf, dass wir je nach Klinik der Symptome entscheiden würden. Gesagt getan. Ich ging ab Sonntag wieder aufs Rad outdoor und es ging jeden Tag ein kleines bisschen besser. Wenn ich den Lenker angepasst hielt und defensiv fuhr hatte ich keine Schmerzen. Wirkliches Krafttraining in der Hand führte ich nur dosiert und "in Reih und Glied" aus, irgendwie musste ich ja zumindest minimale Kraft haben für das Rennen.
Was mich deutlich mehr "stresste" war der Interessenskonflikt zwischen Arbeit und Radsport, welcher jedoch mit Transparenz und Offenheit angegangen wurde und ich auf Verständnis stiess. Ich war sehr optimistisch und Reto gab mir am Donnerstag sein "go". Wir fuhren am Donnerstagabend hinunter, Ingo Krah und ich, ich schaute am Freitag die Strecke an, nur den ersten Teil, und das war wohl der erste und einzige Zeitpunkt im ganzen Rehaprozess, wo ich selbst anfing daran zu zweifeln (ich verlor soooooo viel Zeit bergab) was ich hier eigentlich gerade zu suchen hätte?!
Ich sagte es nicht wirklich, immerhin haben mich bis dahin so viele unterstützt, aber Ingo merkte es wohl, nahm mich in eine Gelateria und wir vereinbarten "mit einem guten Gefühl in die Offseason zu gehen". Startnummer holen, einchecken ins Hotel, Karsten kam gegen 22 Uhr ebenfalls nachgefahren (war auf der Arbeit noch eingebunden gewesen) und ab ins Bett.
Samstagmorgen Start um 10:30 Uhr. Startnummer 25, warmup completed - ich stand neben zig Profis, die ich sonst nur aus dem Fernsehen von Worldtour Rennen kannte. Meine tiefe Startnummer kam durch das letztjährige Resultat (P17 und div. World Series Podien in 2023 zustande). Ich freute mich aber gleichzeitig auf das Rennen mit all den top Profis!
Startschuss und gleich zu Beginn merkte ich, ich hatte eine Variable vergessen. Den Staub. Es reichte mir watttechnisch nicht ganz vorne zu fahren und dann wurde ich aufgrund der fehlenden Bremskraft vorne ständig nach hinten gespült und sah wegen diesem aufgewirbelten Staub gaaar nichts mehr. Das war nicht gut. Denn so sah ich auch keine Schlaglöcher und ich musste sicher 2 Meter Platz lassen, bis ich minimal erkennen konnte wo lang ich fuhr. Normalerweise ist so etwas ganz normal in der Startphase, aber ich durfte mir keinen reaktiven Schläge auf die Hand erlauben. Das wusste und spürte ich ziemlich schnell. Ich war froh, als sich alsbald "Grüppchen" bildeten. Und ich konnte meine Zeitfahrqualitäten in der Fläche ausspielen und holte Gruppe um Gruppe ein (in einem normalen Rennen total worstcase-Szenario, heute war ich froh, dass ich fahren durfte und nicht mehr die letzte war). Ich holte Nele ein, es war Balsam für die Seele, als sie zu mir sagte "ach wie schön bist du da", so fuhr ich sie bis an den ersten Berg, wo sie es dann schaffte in die Gruppe vor uns zu springen. Ich kam ganz ordentlich ebenfalls den Anstieg herauf, fuhr in der Fläche wieder zu ihr auf mit meiner Gruppe, verlor dann in der Abfahrt ca. 40 Sekunden. Zusammen mit einer Australiereín. Mir war klar, ich müsse JETZT die Lücke schliessen, sonst gehts nicht mehr. Die Australierin platzte. Ich schloss sie irgendwie. Dann der nächste Anstieg. Plötzlich sah ich Jade und wieder eine Gruppe von Fahrerinnen holten wir ein. Bergauf fuhr ich solide. Es machte mir Freude dort mitfahren zu können, nach einer gaaanz anderen Rennvorbereitung als geplant - mein Herz schmolz dahin, einfach wieder Rennfeeling zu spüren. Dann kann die Abfahrt. Eine ca. 30%ige Abfahrt auf Beton. Ich bekam die Kraft zum Bremsen nicht hin, verlor sofort den Anschluss und platzte ab. Ich sagte mir jedes Mal wieder das mantra "Akzeptieren, dass das gerade das Maximum ist und mich selbst daran anpassen". Ich wollte die Lücke erneut in der Fläche schliessen, aber mittlerweile war fast Rennhälfte und ich hatte zu viele Körner bei meinen zuvorigen Aufholjagden liegen gelassen. In den steilen Abfahrten konnte ich gaaaar nicht erholen, physisch, aber auch mental nicht, denn ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich unter keinen Umständen stürzen dürfte. Mit den verbliebenden 3 Fingern musste ich mich immer entscheiden zwischen Bremsen/Lenker "locker" halten - beides zusammen ging nicht, weil mir ein Finger dafür fehlte.Ich fuhr mein eigenes Rennen und mein Ziel war gesund und glücklich im Ziel anzukommen.
Dann kamen langsam die AK-Männer, die uns einholten. Normalerweise freue ich mich darauf, am heutigen Tag war es mühsam. Stop and go und sie fuhren halt einfach richtig Rennen, d.h. mit Vollgas durch jedes Schlagloch. Irgendwann nervte es mich, zumal waren sie sehr langsam plötzlich und ich brauchte dringend Wasser. Also fuhr ich die ganze Flachpassage über 20km vorne. Es war mir "lieber und besser", erneut wäre es im normalen Rennsetting "worst-case-Szenario".
Ich war Gott froh eine Flasche von Caro Bauer zu erhalten, wohl als Dank für die Führungsarbeit. Die nächsten Anstiege und Abfahrten verliefen genau gleich wie die letzten. Mit einem Unterschied. Die Handkraft nahm nun richtig, richtig ab. Trizeps und Bizeps ebenfalls, die zuvor kompensierten. Immer in der Ambivalenz zwischen Lenker halten und bremsen und die Abfahrten waren sehr steil bergab und ich zunehmends müder...
Dann die erlösende Einfahrt ins Ziel in Pieve di Soligo, der ganze Druck "nicht stürzen zu dürfen", Freude über das Ziel und den Abschluss der Saison 2023 - ganz viele Emotionen. Und vor allem warteten meine beiden DE-Teamkolleginnen auf mich. 4. Deutsche wurde ich und insgesamt 57. Und ich bin wirklich stolz darauf. Nicht um die Platzierung, die ist mir komischerweise total irrelevant gerade, sondern über das wie die letzten Wochen verliefen und was "mein Team" und ich auf die Beine stellten. An diesem Samstag fuhr ich mein ganz eigenes Rennen - und hier habe ich gewonnen.
Vielen herzlichen Dank für das Vertrauen, das Anpassen des Prozederes, das Mitwirken und all die Hilfe der beteiligten Personen, damit ich mit einem guten Gefühl nach einer tollen Saison mit 41 Renntagen in die Offseason kann! Es war ein Teamwork aus gaaaanz vielen Beteiligten! Danke!
Jetzt heisst es erst einmal 2 Wochen "planloses" leben, wieder richtig arbeiten und vor allem meine Handkraft wieder aufzubauen, sowie die gequetschten Faszien am rechten Oberarm wieder in Aktion zu befördern.
Ganz liebe Grüsse, eure Janine
P.S.: Bilder habe ich leider gar nicht viele, aber ein paar weniger und ein Video vom Frauenrennen. Die Liveübertragung war anscheinend zuerst geplant, wurde dann für die Frauen am Tag zuvor abgesagt - sehr schade für den Frauenradsport.
Wenn ich noch Bilder finde, dann werde ich sie nachträglich hochladen, ansonsten hier ein paar vom Rehaprozess: